Die Kölner Versicherungsgruppe Gerling gehörte einst zu den Ikonen der deutschen Finanzwirtschaft. Das Unternehmen wurde 1904 von Robert Gerling gegründet und von ihm zu einem der bedeutendsten europäischen Industrieversicherer ausgebaut. Nach 1945 führte Hans Gerling, einer von drei Söhnen des Unternehmensgründers, die Diversifikation und Internationalisierung fort.
Eine erste Krise durchlebte das Familienunternehmen im Jahre 1974. Hans Gerling hatte sich zu mehr als 84 Prozent an der deutschen Herstatt-Bank beteiligt. Die Bank stolperte jedoch aufgrund von Devisenspekulationen gegen den Dollar in die Pleite. Die Folge: Hans Gerling musste rund 51 Prozent seiner Anteile an der Gerling Holding an ein Industriekonsortium unter Federführung von Friedrich Karl Flick und die Deutsche Bank veräußern.
Im Jahre 1986 hatte er die Mehrheit der Anteile allerdings zurückerworben. Ein Jahr vor seinem Tod, übernahm 1990 sein Sohn Rolf Gerling die Verantwortung für das Familienunternehmen – allerdings nicht in der Rolle des Vorstandvorsitzenden, sondern als Aufsichtsratsvorsitzender.
Ende 1998 erwarb der Gerling-Konzern die Mehrheit am US-amerikanischen Rückversicherer Constitution Re. Diese Akquisition läutete rückblickend das Ende der Selbstständigkeit von Gerling ein. Denn die Constitution Re hatte unter anderem Asbest-Risiken in Milliardenhöhe versichert, die Gerling hohe Verluste brachten und 2002 voll durchschlugen. Zu diesem Zeitpunkt musste der Konzern darüber hinaus das Attentat vom 11. September auf die Twin Towers in New York verdauen. Im Ergebnis stand Gerling kurz vor der Pleite.
Verhindert wurde diese nur durch eine Kapitalerhöhung um 700 Millionen Euro, die Rolf Gerling und die Deutsche Bank 2002 dem Konzern zuführten. 2003 beteiligte sich schließlich ein Konsortium von dreißig Großunternehmen – darunter Gerling-Kunden wie BASF, Bayer und Lufthansa – am Versicherer, um dessen Existenz als zweitgrößten deutschen Industrieversicherer nach der Allianz zu gewährleisten.
Darüber hinaus wurde eine Sanierung eingeleitet, die den Verkauf der Kredit- und Krankenversicherung, die Abwicklung der Rückversicherung und Kostensenkungsprogramme beim verbleibenden Industrie- und Lebensversicherer vorsah. Nach der Trennung vom Rückversicherungs- und Kreditversicherungsgeschäft positionierte sich Gerling als wirtschaftsnaher Erstversicherer mit einem Prämienvolumen von rund 4,4 Milliarden Euro und 7200 Mitarbeitern in zwanzig Ländern.
Seitdem Altgesellschafter Rolf Gerling im März 2002 geäußert hatte, seine restlichen Anteile am Familienunternehmen verkaufen zu wollen, rissen die Spekulationen um mögliche Übernahmen nicht ab. 2005 machten der Gründerenkel und die seit 2003 mit 30 Prozent an der Gerling-Konzern Allgemeinen Versicherungs-AG (GKA) beteiligten Großunternehmen den Weg dafür frei, indem sie ihre Anteile an die Talanx-Gruppe (HDI, Hannover Rück) veräußerten.
Unter dem Dach der GKA waren die Sachversicherungen des Gerling-Konzerns zusammengefasst. Hierbei handelte es sich im Wesentlichen um Feuer-, Einbruch-, Diebstahl‑, Leitungswasser-, Sturm-, Glas-, Maschinen-, Haftpflicht-, Unfall-, Rechtsschutz- und Kreditversicherungen.
Am 8. November 2005 wurden die Übernahmepläne offiziell bekanntgegeben. Am 20. September 2006 fasste die Hauptversammlung der Gerling-Konzern Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft den Beschluss zur Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär, die Gerling Beteiligungs-GmbH, eine Tochtergesellschaft der Talanx AG.
Die Bewertung
Weltweit wendet die Industrie Jahr für Jahr mittlere dreistellige Milliardensummen für ihren Versicherungsschutz auf. 2006 lag diese Summe Branchenschätzungen zufolge allein in Deutschland bei knapp zwanzig Milliarden Euro.
Das Geschäft ist allerdings kompliziert. Denn vergleichsweise wenige Großkunden und große Schadenssummen im Versicherungsfall führen zu schwer kalkulierbaren Risiken. Extremschäden wie der Anschlag auf das World Trade Center (2001), der Hurrikane im Großraum New Orleans (2005) oder der Tsunami und die anschließende Kraftwerkshavarie in Fukushima (2011) stehen exemplarisch für diese Situation.
Nach den Anschlägen vom 11. September waren die Preise für Industriepolicen in den Jahren 2002 bis 2004 zunächst gestiegen. Im Jahr 2005, also parallel zur Übernahme Gerlings durch Talanx, drehte sich der Trend.
In Deutschland hatte der Preisdruck bis zur Jahrtausendwende allerdings auch dazu geführt, dass sich Versicherungskonzerne wie AMB Generali oder die Württembergische vom Industriegeschäft abwendeten. Die Übernahme Gerlings durch die Talanx Gruppe führte zu einer noch weiteren Konzentration am deutschen Markt. Nach 2006 hatten hiesige Industrieunternehmen im Wesentlichen die Wahl aus einem knappen Dutzend Anbieter, unter ihnen Marktführer Allianz, die neue Firmengruppe aus Gerling und HDI (Talanx) sowie AIG, Axa und Zurich Financial Services (ZFS).
Der einsetzende Preisverfall bei Industriepolicen einerseits, die sinkende Anbieterzahl andererseits, waren 2006 in unterschiedliche Richtungen weisende Einflussfaktoren für künftig zu erwartende Vrsicherungsprämienerlöse.
Auch in Bezug auf potenzielle Synergien ergab sich im Zuge der Gerling-Übernahme ein widersprüchliches Bild. So gingen Experten einerseits davon aus, dass Bestandskunden, um Klumpenrisiken zu vermeiden, Policen auf andere Versicherungen verteilen könnten. Dies hätte dem neu entstandenen Sachversicherer Umsatzeinbußen gebracht.
Andererseits ergab sich durch die Standortüberlappungen von HDI und Gerling Potenzial für Stellenabbau. So wurde die Immobilie am einstigen Konzernsitz Gerlings im Kölner Gereonsviertel verkauft und das Sach- und Rechtschutzgeschäft nach Hannover verlagert. Die Zahl der Talanx-Mitarbeiter, so der Plan Mitte 2006, sollte insgesamt von 16.800 auf 15.000 sinken.
Der Talanx-Vorstand hatte im Zuge der Übernahme angekündigt, die Integration in zwei Jahren vollziehen zu wollen. Die jährlichen Einsparungen durch Synergien sollten ab 2008 im niedrigen dreistelligen Millionenbereich liegen.
Wie komplex die Bewertung der GKA im Jahre 2006 war, zeigt auch der Blick auf zwei konkurrierende Gutachten. So wurde die Gesellschaft vom Hauptaktionär mit 1,0548 Milliarden Euro bewertet. Eine Bewertung, die der gesetzliche Prüfer – Stüttgen & Haeb – in seinem gerade einmal 42 Seiten umfassenden Prüfbericht als zutreffend beurteilte. Der vom Gericht bestellte Sachverständige – NPP Niethammer, Posewang & Partner GmbH – gelangt dagegen auf mehr als 600 Seiten zu einem Unternehmenswert in Höhe von 2,5322 Milliarden Euro.
Das Spruchverfahren
Der Hauptaktionär hatte ursprünglich die Barabfindung auf 5,47 Euro je Aktie festgesetzt. Dies entsprach dem durchschnittlichen gewichteten Börsenkurs im dreimonatigen Zeitraum vor dem Erwerb von 30,1 Prozent der Aktien.
Gegen den Beschluss der Hauptversammlung vom 20. September 2006 zur Übertragung der Aktien auf den Hauptaktionär (Squeeze-out) hatten mehrere Aktionäre Anfechtungsklagen erhoben, unter ihnen die Shareholder Value Beteiligungs AG (SVB) und der Aktionärsverband SdK. Dagegen hatte die Gesellschaft ein Freigabeverfahren eingeleitet. Zum Abschluss dieser Verfahren wurden am 18. April und 9. Mai 2007 Teilvergleiche und am 14. Mai 2007 ein Schluss-Prozessvergleich abgeschlossen.
Der erste Vergleich sah eine Erhöhung der ursprünglich auf 5,47 Euro je Aktie festgesetzten Barabfindung auf 8,00 Euro, der zweite eine Barabfindung von 8,50 Euro vor, sofern Minderheitsaktionäre ihre Aktien vor dem 1. März 2007 erworben hatten.
Doch auch damit sahen zahlreiche ausgeschlossene Minderheitsaktionäre das Ertragspotenzial der Gesellschaft nicht zutreffend abgebildet. 90 ehemalige Aktionäre der Gerling-Konzern Allgemeine Versicherungs-AG haben daher ein Spruchverfahren vor dem Landgericht Köln beantragt.
Ganz falsch war die Einschätzung der Antragsteller nicht; denn der vom Gericht bestellte Sachverständige errechnete einen um rund 140 Prozent höheren Unternehmenswert, was zu einer Barabfindung in Höhe von 11,26 Euro je Aktie führen würde.
Kritikpunkte der Antragsteller
Bewertungsmethodik: Die Planung der Ergebnisse erfolgte unter Zugrundelegung der IFRS-Rechnungslegungsvorschriften mit anschließender Überleitung in die Systematik nach HGB. Der Hauptaktionär habe nach Überzeugung des Sachverständigen die Überleitung in Bezug auf die Schadenrückstellung allerdings nicht sachgerecht vorgenommen, weswegen Korrekturen veranlasst wurden.
Beitragseinnahmen: Die Entwicklung der verdienten Beiträge wird von Antragstellern als zu konservativ beurteilt. Dem ist der Sachverständige jedoch nicht gefolgt.
Schadensquoten / Schwankungsrückstellung: Die von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Schadensquoten werden von Antragstellern als zu hoch angegriffen. Das sieht auch der Sachverständige, jedenfalls für den Zeitraum der ewigen Rente, so. Gleiches gilt für die Schwankungsrückstellung, die dem Ausgleich künftiger Schwankungen im Schadenverlauf dient.
Synergien: Die von der Antragsgegnerin angesetzten Synergien – Ertragspotenziale, Restrukturierungskosten – werden von den Antragstellern in Summe als zu niedrig beurteilt. Dem folgt im Ergebnis auch der Sachverständige. Zwar beurteilt er die Restrukturierungskosten noch deutlich höher als die Antragsgegnerin. Dieser Effekt wird jedoch überkompensiert durch die vom Sachverständigen noch höher geschätzten Ertragspotenziale.
Die Parteien
Zuständiges Gericht: Landgericht Köln, 11. Kammer für Handelssachen; Oberlandesgericht Düsseldorf, 26. Zivilsenat
Aktenzeichen: LG Köln 91 O 164/06; OLG Düsseldorf I-26 W 6/20
Antragsgegner: Gerling Beteiligungs-Gesellschaft mbH (zwischenzeitlich umfirmiert in Hannover Beteiligungsgesellschaft mbH)
Antragsgegnervertreter: Hengeler Mueller, Düsseldorf, Rechtsanwalt Dr. Daniel Wilm
Gemeinsamer Vertreter: RA Dr. Rainer Klocke, Köln
Sachverständiger: NPP, Niethammer, Posewang & Partner GmbH
Gesellschaft: Gerling-Konzern Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft, WKN 841892 / ISIN: DE0008418922
Der Verfahrensverlauf
zur Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre der Gerling-Konzern Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft (Zielgesellschaft) auf die Gerling Beteiligungs-Gesellschaft mbH (Antragsgegnerin) nach §§ 327a ff. AktG (Squeeze-out).
Die außerordentliche Hauptversammlung der Zielgesellschaft hat am 20. September 2007 den Beschluss gefasst, „die Aktien der übrigen Aktionäre (Minderheitsaktionäre) werden auf die Gerling Beteiligungs-Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Köln, (Hauptaktionärin) übertragen. Die Hauptaktionärin zahlt dafür eine Barabfindung in Höhe von 5,47 Euro je Aktie der Gerling-Konzern Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft.“
Betroffen sind insgesamt 10.159.677 Aktien der Zielgesellschaft, was 4,52 Prozent des Grundkapitals entspricht. Einzelaktionäre mit Anteilsbesitz von mehr als 3 Prozent des Grundkapitals gibt es nicht.
Mit Eintragung des Übertragungsbeschlusses in das Handelsregister der Zielgesellschaft ist die Übertragung am 14. Mai 2007 vollzogen worden.
Die 90 Aktionäre, die ein Spruchverfahren zur Bestimmung einer angemessenen Barabfindung eingeleitet haben, sehen die Zielgesellschaft deutlich unterbewertet.
Diese Ansicht wird durch das zwischenzeitlich vorgelegte Gutachten des Sachverständigen Niethammer, Posewang & Partner GmbH (NPP) bestätigt. Dieser gelangt zu einem um rund 140 Prozent höheren Unternehmenswert.
Hiergegen wehrt sich – naturgemäß – die Antragsgegnerin. Sie habe den Eindruck, sie sei „im falschen Film“ (O-Ton Antragsgegnerin).
Mit Beschluss vom 10. Januar 2020 hat das Landgericht Köln die Barabfindung der Minderheitsaktionäre der Gerling Konzern Allgemeine Versicherungs-AG auf 11,26 Euro je Aktie erhöht. Hiergegen haben einige Antragsteller und die Antragsgegnerin Beschwerde eingelegt.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat mit Beschluss vom 7. November 2022 (in Kürze in unserer Datenbank verfügbar) den Beschluss des Landgerichts aufgehoben und die Anträge auf eine höhere Abfindung zurückgewiesen.
Die Termine
20. September 2006 – Hauptversammlung beschließt Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre auf die Antragsgegnerin gegen Gewährung einer Barabfindung in Höhe von 5,47 EUR je Aktie.
18. April 2007 – Erster Teilvergleich im Anfechtungs-/Freigabeprozess: Erhöhung der Barabfindung auf 8,00 EUR, sofern Eintragung des Squeeze-out im Handelsregister bis zum 15. Mai 2007 erfolgt.
9. Mai 2007 – Zweiter Teilvergleich mit Erhöhung der Barabfindung auf 8,00 EUR ohne zeitliche Befristung.
14. Mai 2007 – Schluss-Prozessvergleich mit Erhöhung der Barabfindung auf 8,50 EUR sofern die Aktien vor dem 1. März 2007 erworben wurden.
14. Mai 2007 – Eintragung der Übertragungsbeschlüsse in die Handelsregister der Zielgesellschaft
22. Dezember 2014 – Siegelung des im August 2015 an die Antragsteller versandten Gutachtens des Sachverständigen
15. Dezember 2015 – Ablauf Stellungnahmefrist zum Sachverständigengutachten
3. August 2016 – Beschluss zur Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen
20. Juli 2017 – Ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen
10. Januar 2020 – Beschluss des Landgerichts Köln
7. November 2022 – Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf
(Stand: 22. November 2022)
rolf meint
bis gestern
Jaap Gerling meint
Bis welchem Datum làuft die Beschwerdefrist